Kann das Elterngeld die Geburtenrate beeinflussen? – Nachgefragt bei Nora Reich vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut
Wie das Statistische Bundesamt am 2. Juli 2012 bekannt gab, sind in Deutschland im vergangenen Jahr (2011) etwa 663.000 Kinder geboren und damit rund 2,2 Prozent weniger als im Vorjahr. Kaum war diese Zahl veröffentlicht, wird – wie praktisch in jedem Jahr seit seiner Einführung im Jahr 2007 – das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) in Frage gestellt.
Dieses Gesetz habe sein Ziel verfehlt, so die Meinung der Kritiker, denn die Zahl der Kinder – manchmal auch fälschlicherweise als Geburtenrate wiedergegeben – sei nicht gestiegen. Nora Reich, Wissenschaftlerin am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut, analysiert bereits seit einigen Jahren die Wirkung familienpolitischer Maßnahmen in europäischen Ländern und hat sich intensiv mit dem BEEG auseinandergesetzt.
„Das Elterngeldgesetz soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern und sich dadurch positiv auf die Realisierung von Kinderwünschen auswirken,“ erklärt Nora Reich. „Theoretisch ist das eine plausible Überlegung.
Das BEEG vermag es mehr als das davor geltende Bundeserziehungsgeldgesetz, den Ansprüchen von Frauen, Kinder haben zu wollen, ohne den Beruf aufgeben zu müssen, gerecht zu werden. Durch die kürzere Auszeit, das höhere Elterngeld und die Förderung der Elternzeit-Inanspruchnahme von Vätern verringern sich die sogenannten Opportunitätskosten einer Familiengründung oder -erweiterung,“ fügt Nora Reich hinzu.
Die Forscherin macht dabei auf die unterschiedlichen Zielgrößen von Geburten aufmerksam. „Hierbei muss zwischen verschiedenen Messarten für Geburten unterschieden werden. Die absolute Zahl der Geburten, die diese Woche vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wurde, darf nicht als Messlatte für das neue Gesetz herangezogen werden.
Denn die zusammengefasste Geburtenziffer, also die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau – umgangssprachlich auch Geburtenrate genannt, liegt in Deutschland schon seit den 1970er Jahren unter dem Bestandserhaltungsniveau von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau. Das bedeutet, dass Jahr für Jahr die Zahl potenzieller Mütter sinkt. Daher sinkt erwartungsgemäß auch die absolute Zahl der Kinder.
Aussagekräftiger ist deshalb die zusammengefasste Geburtenziffer, mit der die Kinderzahl mit der Frauenzahl ins Verhältnis gesetzt wird. Streng genommen müsste man aber die Messung der Fertilität von Frauenkohorten abwarten, die erst nach Ablauf der fruchtbaren Phase feststeht,“ so Nora Reich.
Auch vor dem Hintergrund der langfristigen Entstehung von Kinderwünschen und zahlreicher weiterer Einflussfaktoren auf die Fertilität sei vor einer zu schnellen Verurteilung des BEEG gewarnt. Nora Reich führt aus: „Das BEEG geht in die richtige Richtung was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbelangt. Aber die Fertilität wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst.
Auf der privaten Ebene spielt zum Beispiel das Finden eines geeigneten Partners und eines sicheren Arbeitsplatzes eine Rolle. Wie in meiner Diplomarbeit dargelegt, sind von den politischen Rahmenbedingungen familienpolitische, aber auch arbeitsmarkt- und gleichstellungspolitische Maßnahmen für die Realisierung von Kinderwünschen relevant.“
Bis heute ständen Nora Reich zufolge viele Politiken den Zielen des BEEG diametral entgegen. Zum Beispiel kann ein Elternteil höchstens zwölf Monate bezahlte Elternzeit beantragen, es gibt aber nicht genügend Kita-Plätze für Kinder im zweiten Lebensjahr.
Die Öffnungszeiten von Kitas und Schulen erlauben zudem meist höchstens eine Teilzeittätigkeit. Auch das Ehegattensplitting fördert eher das Familienmodell mit dem männlichen Brotverdiener und der Frau als Hausfrau oder Zuverdienerin, statt dem Modell, in dem beide Partner etwa gleich zum Familieneinkommen beitragen. Darüber hinaus seien die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Karrierechancen für Frauen von Bedeutung, so Nora Reich, die zahlreiche Studien zu den Einflussfaktoren auf die Fertilität ausgewertet hat.
„Statt das BEEG in Frage zu stellen, sollten antiquierte Maßnahmen wie das Ehegattensplitting, welches vor über 50 Jahren eingeführt wurde und den Steuerzahler rund 20 Milliarden Euro jährlich kostet, bezüglich seiner Wirkung auf Kinderzahlen und Erwerbstätigkeit von Frauen untersucht werden. Zudem würde das geplante Betreuungsgeld das Ziel des Elterngeldes, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die finanzielle Unabhängigkeit von Familien zu fördern, konterkarieren.
So lange es in Deutschland keine Familienpolitik „aus einem Guss“, flankiert mit passenden Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitiken, gibt, ist kaum ein Effekt auf irgendein Geburtenindikator zu erwarten,“ sagt Nora Reich. „Außerdem sollte man die Errungenschaften des Elterngeldes jenseits der Geburtenzahlen nicht außer Acht lassen,“ fügt Nora Reich hinzu.
„Zum Beispiel gab es seit 2007 zum ersten Mal einen rasanten Anstieg des Anteils von Vätern, welche eine Auszeit für ihr Neugeborenes nahmen. Erstens profitieren die Kinder von der Zeit mit dem Vater, zweitens kehren deren Frauen nachweislich schneller wieder an ihren Arbeitsplatz zurück und tragen so zur finanziellen Stabilität von Familien bei.“
Die Frage, wie die deutsche Familienpolitik der letzten Jahre auf die Größe zukünftiger Generationen wirkt, bleibt für Nora Reich also weiterhin ein spannendes Forschungsfeld.
Verweise:
http://www.nora-reich.de/publikationen.html
http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/HWWI_Policy_Paper_1-10.pdf
http://www.amazon.de/Familienpolitik-Geburtenrate-Deutschland-Bundeselterngeld-Elternzeitgesetzes/dp/3836697890
Nora Reich (2010): Familienpolitik und Geburtenrate in Deutschland: Die potenzielle Wirkung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes auf die Kinderzahl, Diplomica Verlag, Hamburg.